Hamburg, ein Völlegefühl (Teil 1)

Natürlich ist Hamburg mehr als der Kiez. Es gibt ja noch das Schanzenviertel.

außenklo

Den ganzen dreckigen Rest kehre ich unter den dicken Teppich subjektiver Ignoranz. Denn deutsche Städte sehen großenteils sich zum Verwechseln ähnlich, wenn man sie von innen heraus betrachtet. So fahre ich gern an ihre Enden, will die Außenhaut samt Pickeln und Geschwüren und bizarren Blüten. Die blühen in der Schatzstadt nicht nur im Loki Schmidt Garten – auch wenn es da im Winter herrlich trist ist.

loki schmidt garten

Entgegensetzlich liegt das absurd hässliche Kraftwerk Tiefstack. Der Bus fährt ewig durch unendliche Autoschieberhöfe und spuckt einen aus ins Nichts. Urbane Mondlandschaft; nimmt man die Linie 3 retour,  offenbart sich das Paralleluniversum der Trabrennbahn Bahrenfeld , doch davon hier ebenfalls nichts.

Wir wohnen an der Schilleroper, mittendrin, hier haben Boy Division ihre erste Platte aufgenommen, vor Jahr und Tag. Doch das erzählt mir Bernd Kroschewski erst am Telefon, als ich schon wieder rheinischen Smog atme. Insgesamt lässt sich sagen, dass Völlerei ein Feind der Kultur ist, Fressen und Moral liegen ja auf einer Zeitachse auch an verschiedenen Enden. Wir haben leider überhaupt nicht vergessen zu essen – und darüber ist das Tanzbein eingeschlafen. Das ist jammerschade, atmet doch keine Weltengegend mehr persönliche Musikhistorie als die Schanze.

schilleroper

Morgens fiel der Blick also dreimal in Folge zuerst auf diesen kaputten Bau, der ursprünglich, Ende des 19. Jahrhunderts, für den Zirkus Busch erbaut wurde und über tausend Zuschauer fasste. Theater, Seemannsheim, Auffanglager, Spekulationsruine, seit Jahrzehnten. Zwischendurch mal, in den 90ern, als Popmusik noch ein König aus Deutschland war, in einer hanseatischen Schule, wichtiger Club. Alle haben sie hier gespielt. Der Blick auf die Ruine erfüllt mich mit dem Stolz der zu früh geborenen Nachgeburt. Kann keinen Odem spüren, wohl aber die Pisse riechen und die Sinnbildlichkeit sehen für ein überkommenes Geschlecht. Der Mensch ist ein doofes Tier und wir feiern uns in den Abgrund.

Der Völlerei gefrönt haben wir u.a. in Eimsbüttel bei Oliver Trific (Stinte und Doppelpulpo = Spitzenklasse), bei Pauline (Frühstücksparadies mit netten Köchen), mit Herrn Paulsen im Lokal1 (deliziös: Schanzenschweinerei), nicht im Nil, mit Fischköppen (1A Räucherwaren), leider auch nicht bei Muttern im Kimzen (dafür gab’s die beste Abfuhr ever), Süßes im Transmontana.

stint im trific

Fidel Bastro ist ein gutes Label, Bernd ist der Chef und gleichzeitig Teil der Boy Division, altgediente Hamburger Coverband. Deren Sänger Oliver Hörr betreibt den Saal II, wo sich gut Bier trinken lässt. Dort nahmen die Jungs auch mal eine Single auf, im Keller. Schulterblatt heißt die Straße, an der auch die Rote Flora liegt. Zwei Ecken weiter, nachts, fast schon wieder bei der Schilleroper angekommen, lockt noch die Mutter. Denn hier ist zu Hause, Mama.

mutter

Es folgen noch ein paar Geschichten. Begegnungen. Eindrücke. Von drei Tagen Schatzstadt. Bis dahin: Musik.

>>> Zur Hamburgfortsetzung.


Ein Buch, mit Liebe bereitet

Im Kreise der vielen lieben, spannenden, absonderlichen, egozentrischen und hyperkreativen Menschen, die ich in den letzten beiden Jahren über diesen Blogbetrieb und meine damit verbundene Netzexistenz kennengelernt habe, nehmen zwei, drei, vier Verrückte Sonderrollen ein. Weil da Nähe ist ohne eine gemeinsame Geschichte. Über Geschichten aber, die wir alle ähnlich erfahren und weitergeben, entsteht Solidarität. Bekanntschaft. Freundschaftlichkeit. Schreiben verbindet, so sehr, dass die Themen austauschbar scheinen. Egal ob in Köln, Berlin oder Ingelheim, am Niederrhein oder in LA – am Anfang war es der „Foodie-Hype“, schnell wurde es permanente Selbstversicherung gemeinsamer kultureller Grundlagen. Oft einfach nur Rock’n’Roll.
Wenigen habe ich noch nicht ins Antlitz gelacht.

Doch in Hamburg, der zweitbesten Stadt der Welt, war ich schon seit vielen Jahren nicht mehr. Es hat sich einfach nicht ergeben. Obwohl kaum ein Ort mehr Anziehungskraft auf mich ausübt seit Zeiten. Kulinarisch, popkulturell. Und der Menschen wegen. Gut, Portland vielleicht, aber dieser Traum wurde ja wirklich wahr, im letzten Jahr. Die Hansestadt hingegen war Wallfahrtsort, viele wilde Jahre lang. Irgendwann war ich satt.

Hunger verspüre ich aber nach meiner Lektüre der letzten Tage. Stevan hat  mir sein neues Buch geschickt. Es heißt Schlaraffenland. Und der Offbeatkönig der deutschen Foodblogprominenz parliert darin 15 Geschichten lang beiläufig pointiert, farbenfroh und sinnenreich, zischend heiß und wohltemperiert. Mit Herrn Paul würde ich schon mal gerne die eine große Wassermasse schwimmend durchschneiden. Denn „Wellenreiter“  heißt die Sieben-Seiten-Geschichte, die mich am tiefsten berührt. Da findet einer zurück in sein Element und weiß doch nicht warum. Trinkt mittags Bier in südlicher Sonne und labt sich an deliziösem Strandbudenkram. Urlaub scheint erst kein erholsames Konzept für ihn. Bis er wieder Kind wird, ganz leise und unvermittelt. Ist das Leben ein Traum, wenn es gelingt?

Diese Frage war mir Lesequintessenz. Ich spüre ihr nach, als gerade Fisch und Calamares und Kichererbsen und Lorbeer in Pfannen brutzeln – die Rezepte im Buch erscheinen auf den ersten Blick mehr Pflichterfüllung und Verlagsbefriedigung. Erst das Schmecken gibt dann aber den Blick frei auf die zweite Ebene dieser Gaumenliteratur. Da ist einer mit sich im Reinen und lässt uns teilhaben an seinem Blick auf die Dinge. Nicht alles ist mir gleicher Kitzel, manche Idee verfliegt zu schnell im Abgang. Und doch ist das ein gutes Buch. Denn es ist mit Liebe gemacht. Lasst es Euch schmecken!

(Über Wodka wollte der Autor schon nicht im sozialen Netz mit mir streiten – diese Dinge seh ich fürwahr anders. Doch: Geschenkt.)

Stevan Paul
Schlaraffenland

mairisch verlag, 2012

Mehr von Herrn Paulsen: nutriculinary.com


Uferlose Selbstkontrolle

Dieser Blog dient ja nicht selten halböffentlicher Vergewisserung meines kulturell-kulinarischen Selbst. Kochen mit Musik ist mehr Luke in’s Licht als Leitmotiv, eher Schießscharte denn Zielobjekt. Wirre Gedankenströme und formlose Fabulierwut nehmen noch jeden Kampf auf gegen Struktur und Sinn. Dahinter liegt nichts und darunter allenfalls ein Erdloch. Drumherum allerdings existiert seit kurzem eine Grenze. Ganz so uferlos werden die nächsten 50 Jahre nicht werden wie bisher, da ist ein Graben vor und einige Pfähle wurden gerammt ins Lebensglück. Als Stütze und Geleit. Die Erkenntnis, dass Beschränkung durchaus bewusstseinserweiternd wirken kann, ist nicht neu und doch wird sie hier zukünftig instrumentalisiert zum Glücke aller Leser. Sonntags kommt fürderhin nur Kuchen auf den Tisch. Wer am selben Platz nimmt, bleibt ein offenes Geheimnis.

donauwellenartig

Als Denkfabrik des deutschen Pop wird die Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.)  aus München nun schon seit über 30 Jahren beschimpft. Dass dabei immer wieder gute Alben von der Gruppe um Thomas Meinecke und Michaela Melian veröffentlicht werden, geht in der opulenten Referenzhölle bisweilen etwas unter. Auch das aktuelle Werk – „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ – schreckt mit Songtiteln wie „Eine Ohrfeige für Kurt Georg Kiesinger“ oder „Josephine Baker in Paris“ intellektuelle Feinmotoriker genauso ab wie Unbelesene. Ein Kunstbegriff, der sich dem Konsum verweigert, ist nun auch gar so neu nicht – überraschend ist jedoch, was hinten rauskommt. Denn bei aller repetetiver Transzendenz und Rhythmik im Gewand von Rock wird das eigentliche Lied ausgegraben. Angewandte Archäologie von und für Popisten. Während alle Abgänger der Hamburger Schule inzwischen offenbar im Mittelbau mediokrer deutscher Provinzunis vergammeln, geben die Leute von der Isar nunmehr Volkshochschulkurse in angewandter Lebenslust. Alsterwasser dient allenfalls technischer Brillianz (Studio, Master, Label: Hier funkeln die Nordlichter) – und alles fließt, auch in verschlickten Gräben drücke ich weiter auf die Tube mit Flussmetaphorik und backe:

Donauwellen. Denn es ist Kirschenzeit hier im Burgenland und Buttercreme ist wachsweich gewordener Punkrock. Dass bei Luftfeuchtigkeit tropischer Art Schokogüsse nicht so erstarren wie ich beim ersten live erlebten Karpfenkampf, tut dem Genuss keinen Abbruch. Die Eckdaten: Ein Pfund Butter, acht Eier, süße Kirschen, unzählige. 250 g Bitterschokolade. Dazu zwei Kuchengabeln und eine Kanne Räuchertee. Willkommen im Dienstbotenabteil eines hochherrschaftlichen Zwischenreichs.


Hunger

Das Internet kann sinnvoll sein, glücklich machen, Euphorie-Bremsen lösen. Aber satt machen?

Zum Glück gibt es seit etwas länger als einem Jahr Abhilfe aus Hamburg: Konspirative Küchenkonzerte. Einmal monatlich im Regional-TV und zu jeder Zeit im Netz macht Marco Antonio Reyes Loredo Kunst im ganzheitlichsten Sinne. Kocht und bildet und unterhält sich und lässt unterhalten. Durch lustige Musikanten, die in der Kantine in Wilhelmsburg auftreten, wie z.B. Begemann, Stereo Total, schon wieder Station 17, Nils Koppruch und die weltbeste Bernadette la Hengst.

Bernadette la Hengst bei den Konspirativen KüchenKonzerten

Bernadette la Hengst bei den Konspirativen KüchenKonzerten

Habe ich jetzt weniger Hunger? Ich schrieb schon mal an andrer Stelle über die Bedeutung von Soulfood im Wortsinne. Wenn ich Frau la Hengst Hunger performen sehe und höre, habe ich den eigentlichen Nahrungszufuhrzwang glatt vergessen.


Fickt das System

Heute morgen mit diesem lieblichen Lied im Ohr die Augen aufgeschlagen und gedacht: Werde ich auf die alten Tage wieder politisch? Doch ich wollte nur: Tanzen! Funktionierte 1992 extrem gut, lachend Tanzen ist vielleicht die gesundheitsförderndste Art der Kulturaneignung. War schon damals nicht sarkastisch gemeint, was der Frank Spilker samt Sternen sang. Warum rockt das heute – oder auch nur annähernd gutes, ähnliches Neues – nicht die Tanzflächen der Republik?

Justament beginnt in Köln die C/O POP, immer erfolgreichere Popkommunisten-Nachfolgerin. In deren Rahmen spielen die Himmelskörper aus Hamburg am Sonntag im Statdtgarten. Hingehen, Tanzbein schwingen, mitsingen:
„Nur kein Pathos, ratlos, harmlos, keinen Pathos.
Tote werfen keine Schatten, keine Parolen, keine Blöden wie die:
Fickt das System!“


ByteFM

Es gab da diesen großartigen schwedischen Torwart. Dritter Mann seiner Nationalmannschaft bei der WM 1978 in Argentinien. Mit Malmö FF mehrmals schwedischer Doublegewinner, im Endspiel des Europapokals der Landesmeister 1979. Bestandteil des ewigen Fußballfan-Gedächtnisses. Aber um ihn soll es gar nicht gehen. Sondern unter anderem um Jan Möller, der mit „Von Bullerbü nach Babylon“ auf byte.fm eine der besten Webradio-Sendungen verantwortet. Im Moment läuft die Wiederholung vom Montag, natürlich ein Fußball-Lieder-Special. Anpfiff: Belle And Sebastian / I Don’t Want To Play Football.

Und natürlich – nein, nicht Fritz – Klaus Walter, der große Popkultur-Aktivist aus Frankfurt (und neben Klaus Fiehe, der da in Hamburg natürlich auch mitturnt, der Godfather öffentlich-rechtlichen Musik-Journalismus). Sonntags um 20 Uhr mit seiner Aufklärungs-Show „Was ist Musik“. Die letzte widmete sich der Kolossalen Jugend und was daraus geworden ist. Bessere Zeiten klingt gut. Und nix besser als ByteFM.