Bitte nicht auflegen! Jahresendmix 2012 (Teil 2)

Hinterher weiß man immer mehr. Selbstverständlich blitzt mir jetzt all die Musik durch’s Hirn, die es im letzten Jahr nicht ins Gesindehaus geschafft hat. Lieblingskünstler wie Bernadette la Hengst, Locas in love oder Stereo Total haben neue Alben veröffentlicht, fielen aber erst einmal durch’s Wahrnehmungsraster, Die Nerven sind ganz neuer Hype aus Stuttgart und passten schlicht nicht zu meiner letztjährigen emotionalen Gesamtverfasstheit (Wohin mit dem Hass?), Maike Rosa Vogel will ich erst noch kennen lernen. Es war im Übrigen auch nicht das Jahr der elektronischen Musik auf meinen Plattentellern.

Doch weiter geht’s mit dem zweiten Teil des Jahresendmixes 2012 (zum ersten Teil):

9. Chuckamuck – Der Laden an der Ecke

Was macht eine neue Band, die als heißester Scheiß der Hauptstadt gestartet ist, semilegendäre Undergroundhoffnung wurde und Klischees reitet, bis der Gaul lahmt – nachdem ihr erstes, fast erfolgreiches und doch mindestens großartiges Album ein paar Monate alt war und der Rotz jugendlicher Devianz schon auf der Kiezeinbahnstraße zu trocknen drohte? Richtig: Sie verschenken neue Musik (Eintrag: March 30, 2012) und warten ab. Bald auf Tour, u.a. im Vorprogramm von Tocotronic. Sachen gibt’s…

10. Sophie Hunger – Das Neue

Zugegeben, ich bin nicht unglücklich, dass dies Lied online nicht in einer vernünftigen Qualität zur Verfügung steht. Es stellt in dieser Kompilation einen ähnlichen Stilbruch dar wie die Schweizerin in sich. Ist das jetzt Kleinkunst, Varieté, SingerSongwritertum, IndieMusical – oder schlicht Pop? Es ist auf jeden Fall gut und ich mag Sophie Hungers Energie seit dem ersten Hören vor fünf, sechs Jahren.

11. Doctorella – Lass uns Märchenwesen sein!

Parole Trixi mochte ich ebenfalls sehr. Umso gespannter war ich auf Doctorella, das neue Projekt der Schwestern Grether. „Drogen und Psychologen“ ist ein bisweilen erwartet absurdes Album, stellenweise leider auch beliebig und uninspiriert. Die Märchenwesen-Single allerdings war eine meiner Sommermelodien. Dadaismus und Fruchtbonbons, Harmoniegesang, Morgenschwips und die Haare im Wind. Leider rauche ich nicht mehr. Klippklapp.

12. Die Heiterkeit – Alles ist so neu und aufregend

Perfekt inszenierter Undergroundhype. Berühmt schon vor dem ersten Ton. Frauenband als Männerding. Popprodukt als Inkarnation aller alternativen Rollenklischees. Funktioniert.

13. Tom Liwa – Wohin mit dem verheulten Gesicht?

Der Ukulelenmann aus Dusiburg hat im letzten Jahr ein neues Album veröffentlicht. Vielleicht sein bestes. Ich habe das schon beschrieben. Soviel nur noch ergänzend dazu, heute, über neun Monate später: Diese Trennungsschmerzmusik funktioniert auch, wenn der Himmel dauerhaft rosarot leuchtet. Großartig.

14. Wolke – Süchtig

Apropos rosarot und so: the soundtrack of my love!

15. Die Sterne – Fickt das System

Vor 21 Jahren haben die Hamburger Parolen ad absurdum geführt – mitten auf die Tanzfläche. 2012 dann einige ihrer Lieder neu eingespielt, live, und auf einem Minialbum veröffentlicht: „Für Anfänger“. Diesem wohnt bestimmt ein Ende inne…

16. Jacques Palminger feat. the Kings of Dubrock – Kinder der Sonne
(Auf einigen Exemplaren des Jahresendmixes fehlt dieser Track – dafür gibt es ihn bei soundcloud als Gratisdownload.)

Ist „Fettuccini“ jetzt mein Album des Jahres? Vielleicht. Es ist auf jeden Fall – neben den Konzerten von Kapelle Petra – das einzige Ereignis, bei dem Humor und Musik unfallfrei zusammengehen. Ansonsten hat Eric Pfeil alles notwendige dazu geschrieben. Ich freue mich dieweil auf das Konzert in der nächsten Woche. Man sieht sich dort, im Vinylfachgeschäft oder auf dem nächsten Plattenabend.


Goldrausch

Jetzt hätte er mich fast soweit gehabt! Zum Glück erinnerte ich mich aber rechtzeitig an Dawson City.

Tom Liwa hat ein neues Album veröffentlicht. Vielleicht sein bestes. Wie immer schon wünschte ich ihm eine wahre Flutwelle an medialer Reaktion, Fanstürme, platinfarbene Schallplatten gar. Er singt aber schlicht vom Leben, immer im Fluss, in 891 Songs zum Goldrausch. Ich muss weinen, wenn ich diese Lieder höre: Yoyo, Günther geht – Anna kommt, Heideblume. Die Stimme von Tom aus Duisburg, eine Ukulele – Seelenmusik. Seit nunmehr 25 Jahren schon liebe ich diesen Mann.

Aber nein! Eine Albumrezension schreibe ich ihm nicht. Das Kapitel ist beendet, das Buch zu. Gerade für Lieblingsmusiker will ich nur noch Fan sein – Kritikaster nimmermehr. Plattentesten tun Leute wie Oliver, zuverlässig und gut. Wo der Klondike in den Yukon mündet, besser gesagt ein paar Meilen entfernt, am Bonanza Creek, stieß Skookum Jim Mason (Keish) am 16. August 1896 auf Gold, wahrscheinlich zusammen mit seiner Schwester, Shaaw Tláa; beide vom Volk der Tagish Khwáan. Vor 20 Jahren lief ich ein Stück des legendären Chilkoot Trails, der die Pazifikküste bei Skagway/Alaska mit den Schürfgründen verband. Auf über 3525 Fuß Höhe türmen sich die Coast Mountains auf – in den drei Jahren der legendären „stampede“ quälten sich über 100.000 Glücksritter über den Pass, unzählige blieben dabei auf der Strecke.

Heute ist das ganze leider etwas profanisiert. Outdoortourismus boomt. Sowohl die US-Amerikaner wie die Kanadier haben das Gebiet zur National Historic Site erklärt und die Marketingmaschinen laufen heiß. Schon am ersten Goldrausch haben nicht die Leute verdient, die am Ende glücklich waren, einen jämmerlich kargen Claim abzustecken um sich hernach monatelang durch den Permafrost zu quälen. Sondern das Kapital: Whiskeyfabrikanten, Dosenbohnenhersteller, fliegende Händler und Zuhälter. Und wer heute durch Dawson läuft, hält Disneyland wahrscheinlich für eine Konsumwüste.

Dann doch lieber wie Tom Liwa von Honig und Laub singen, Krähen zählen, einem verlorenen Wochenende nachspüren. Seine goldenen Räusche sind wie fliegende Teppiche der kleinen Kunst. Vielleicht was leuchtendes dazu kochen? Gülden? Musik auf dem Teller könnte so aussehen:

Risotto con ragù di pesce

Risotto con ragù di pesce

 


Wie oft musst Du vor die Wand laufen, bis der Himmel sich auftut?

2007 war kein gutes Jahr. Darin übrigens 2009 ganz ähnlich. Tatsächlich zuviel Wand, ganz selten Himmel. Eine musikalische Überraschung jedoch, etwas gänzlich unerwartetes Großes widerfuhr mir und allen, die in den 80/90ern ihr Herz an deutschsprachige Indie-Musik verloren hatten. Die Flowerpornoes waren wieder da, nach über 10 Jahren Funkstille, mit einem großartigen Album, das ums erwähnte Laufen und Auftun sich drehte. Rock’n’Roll für vegane Ex-Hippies mit ausgeprägtem Vaterkomplex. Oder eben Typen wie mich, die sich nie entscheiden können zwischen Brahms und Blumfeld, Mahler oder m.walking on the water. Übrigens: Alle hier erwähnten haben großartige Kinderlieder im Œuvre.

Und ganz besonders Tom Liwa aus Duisburg, Ruhrgebiet und Niederrhein. Der liebenswürdigste Kauz des hiesigen Popbusiness. Auch ohne die Flowerpornoes im besten Wortsinne ein großer Lieder-Macher. Wie ich überhaupt darauf komme, wirre Gedanken zu seltsamen musikalischen Topoi abzusondern? Bin mal wieder auf Toms Internet-Präsenz gelandet und habe erfreut festgestellt, dass er weiterhin die gute antikapitalistische Tradition des hintergedankenlosen Verschenkens aufrecht erhält. Drei Songs – darunter eben auch eine Kinderliedadaption – sind’s momentan. Anhören! Und wenn er mal in Eurer Nähe auftritt: Hingehen!

Übrigens: Als vor ein paar Jahren für manche musikschaffende Nachgewachsene aus New York (wie CocoRosie oder Animal Collective) die Schublade „Freakfolk“ erfunden wurde, dachte ich sofort, was wohl der Tom darüber denkt. Muss ich ihn mal fragen.

Und: Wenn ich mit Tom Liwa eine Farbe verbinde, dann gelb. Was mich wiederum zu einem Gang auf den Markt animiert (Okay, ich wäre sowieso gegangen.). Nachschauen, ob es endlich die ersten gelben Bohnen (Wachsbohnen) gibt. Jedes Jahr um diese Zeit die gleiche Vorfreude auf eine gleichermaßen einfache wie delikate Sache: Mit wenig gesalzenem Wasser dampfgaren. Dann in Butter und einigen Spitzen Bergbohnenkraut aus dem Garten schwenken. Mit einer neuen Kartoffel zusammen der perfekte mittägliche Imbiss.