Die Insel des zweiten Gesichts oder: Über den besten Roman der Welt

Meine erste Idee: Jeden Tag dieser Woche die Rezension eines der Bücher, die ich nie schrieb. Doch das Ergebnis eines solchen Ansinnen wäre ein gleichermaßen breiter wie tiefer und sommerlich träger Bewusstseinsstrom geworden – selbst Lesern dieses Blogs unzumutbar. Zumal die Aufgabe ist: Genuss. Astrid bat um Beiträge über Gedrucktes. Eine große Bande von Internetessern und -vollschreibern sagte zu. Ich auch – und stehe nun da ohne ein Werk, das zu empfehlen sich lohnt. Kochbücher sind beinahe ausnahmslos langweilig und beleidigend. Die wenigen Ausnahmen stammen von schwulen Londonern oder aus mittelalterlichen Klöstern und sind hinlänglich bekannt. Kulinarikgeschreibsel kommt über den Status von Metaebenengeschwurbel selten hinaus. Bei Genussprosa wird mir schlecht. Was tun? Die Frage anders stellen. Was bereitet mir Genuss, obwohl es zwischen zwei Buchdeckeln steckt? Ich muss nicht lange überlegen und empfehle meinen Lieblingsroman. In mehreren Etappen und zitiere dazu Stellen, in denen Fraß und Spaß sich zwar nicht reimen, aber eine einprägsame zweite Geige spielen. Mindestens.

Albert Vigoleis Thelen ist der unbekannteste aller bedeutsamen deutschsprachigen Autoren des letzten Jahrhunderts. Ich las Die Insel des zweiten Gesichts mit Anfang 20 und war fortan infiziert und beseelt. Ich hatte den großen Schelmenroman der Neuzeit in den Händen und wollte werden wie er, Vigo, mit dem mich immerhin die Herkunft verband: Ein Schwadroneur. Wer weder Autor noch Werk kennt, lese zum Einstieg einen Artikel, der am 2. Dezember 1953 im SPIEGEL erschien und, welch großes Glück, online abrufbar ist. Überschrift:  Kampf gegen die Kartoffel.

vigoThelen hat nie das eine Wort, er muss immerzu alles umschreiben. Er schreibt über das Leben, das pralle, saftige, den Wildwuchs. Und dies aus der Warte eines weitgereisten Stubenhockers. Er vegetiert zur Zeit der Machtergreifung durch die Nazis auf einer damals schon touristischen Topdestination: Mallorca. Er kämpft gegen Windmühlen und Häscher des Systems. Er schlägt sich rum mit Hunden und Huren und scheitert an Geistesblitzen. Am Genuss hat er nur Teil mittels Beobachtung. Diese wiederum beschreibt er präzise.

Ich werde in den kommenden Tagen einige Einblicke gewähren in den fetten Schinken samt meiner eigenen Rezeptionsgeschichte. Schon bei der ersten Lektüre und sich steigernd bei jeder Wiederholung waren mir die Passagen, in denen es ums Essen und Sterben ging, die eindrücklichsten. Zum Einstieg verlinke ich eine Leseprobe aus dem 4. Buch, II. Kapitel, 1. Abschnitt. Wie er einer Rotte Herrenmenschen einen Finsterfisch als „Krollhai mit ganz penetrantem Wildgeschmack“ schmackhaft macht, sucht seinesgleichen.

Was man also lesen kann, schon in diesen wenigen Sätzen, ist das archetypisch Niederrheinische des Don Vigo. Er weiß nichts, kann aber alles erklären. So umschrieb Hanns Dieter Hüsch dies Jahre später. Wir alle drei, Thelen, Hüsch und ich, haben lange Jahre im selben Ort zugebracht, sind großenteils gar daselbst geboren. Ein Zufall ist das nicht.


Vögel, Eier und Koze

In meinem Lieblingsroman „Die Insel des zweiten Gesichts“ beschreibt der bedeutendste Süchtelner aller Zeiten, Albert Vigoleis Thelen, im Jahre 1953, sich an sein Mallorca-Exil in den deutschdunklen Dreißigern erinnernd, die Spanier im Allgemeinen und Prostituierte und deren Freier im Besonderen als die größten Eierfresser weltweit. Meist in Form einer tortilla francesca vor und nach dem Verkehr zu jeder Uhrzeit zu sich genommen wird der Eierverehr quasi als Potenzdoping anempfohlen, als universaler Energiespender besungen. Dass dies im Rahmen eines Schelmenromans von einem Erzschwadroneur erzählt wird, tut der Güte der Geschichte und ihrem wahrscheinlichen Wahrheitsgehalt keinen Abbruch. Es handelt sich dabei auch nicht um einen mediokren Sprachscherz, der huevos mit cojones gleichsetzt, weil es im Deutschen so anzüglich nahe liegt. Vigoleis focht mit feinsten Wortwaffen, Eindeutigkeiten waren ihm ein Graus.

Ich nun hatte ein Problem, kürzlich. Kein energetisches. Schlimmer: Einer jahrelangen Vertrauensbeziehung hatte der Sensenmann ein Ende bereitet. Er hatte meine Eierfrau geholt. Sie wohnte in einem alten niederrheinischen Hutzelhaus, hielt im Obstgarten acht bis zwölf  Antwerpener Bartzwerge. Mehr oder weniger. Wegen fehlendem Flügelschnitt entflog immer mal wieder die eine oder andere Henne. Und die Reinheit dieser Urzwergrassenpopulation war mangels eindeutiger Abgrenzung auch nicht nachhaltig gewährleistet. Das Paradies: Ein 15minütiger Spaziergang wurde regelmäßig belohnt von zwei bis drei Händen voll kleiner Geschmackswunder. Kein etablierter Handel fand dort statt, althergebrachtes Geben und Nehmen war die Grundlage unserer glücklichen Beziehung. Vorbei!

Zwischenzeitlich der Verzweiflung nahe ließ ich mich von regelmäßig Reisenden gar mit Ersatzprodukten eines vertrauenswürdigen Ruhrgebietserzeugers bedenken. Doch dieser Unsinn hat nun ein Ende – ab sofort wird einfach häufiger Rad gefahren zum Stautenhof, bisher nur für alles rund ums Schwein auf meinem Konsumkompass ganz weit vorne. Doch die Landwirtschaft in Anrath hat sich in den letzten Monaten zum ökologischen Vollversorger gemausert. Neben einer eigenen Bäckerei, der komplett geschlossenen Fleischproduktionskette und besten Kartoffeln gibt es inzwischen gar ein Bistro und eben: Eier. Vom Hühnermobil. Geschmacklich hervorragend. Was fehlt, ist die Romantik.

bioeier

Die geht in der Regel auch elektronischer Tanzmusik ab. MinimalHouse und ElectroTechno können alles, nur nicht ans Herz greifen.  Das schafft auch nicht die Turntable-Legende DJ Koze aus Hamburg. Stefan Kozalla war zwar kulinarisch bedeutsam als Teil von Fischmob und International Pony sowie emotional auf den Punkt als Remixer von Blumfelds Tausend Tränen tief, doch erst als Produzent und Labelbetreiber in Berlin ist er wieder auf dem Radar meines Küchentanzbodens aufgetaucht. Mit Pampa Records ist offensichtlich das gelungen, wonach wir alle hin und wieder lechzen: Futter für den „Rave ohne Pillen“ anzurühren.

Die Vögel – Fratzengulasch

Das Duo Die Vögel sind übrigens Mense Reents und Jakobus Siebels, deren erste Band anfang der 90er „Das neue Brot“ hieß. Mense war und ist zudem Teil von Egoexpress, Stella und den Goldenen Zitronen. Jakobus (JaKönigJa) malt mehr. Ich tanze also zur Eierelectronic, irgendwie.


Mangold. Chorizo. Reis.

„Dass der Niederrheiner nix weiß, aber alles erklären kann, dat wissen se ja. Un oft genug weiß er nix Genaues un sacht dann einfach: So ähnlich jedenfalls.“
Blogposts geliehene Zitate voranzustellen, ist eine feuilletonistische Masche, die ich nicht mag. Da wir Niederrheiner aber nicht nur Schwadroneure sind, sodern auch die Erfinder der Inkonsequenz, beginne ich mit Hanns Dieter Hüsch. Er ist der geistige Vater meiner inexistenten Kochrezepte. Die Beschreibungen dessen, was ich in der Küche tue, sind allenfalls Annäherungen. Weil es mir Spaß macht, Fährten zu legen und gleichzeitig mit Nebelkerzen zu werfen. Präzise Anleitungen langweilen mich. Und Überheblichkeit halte ich bisweilen für eine Zier.

Hüsch hatte klumpige Füße. Die Wikipedia verkürzt seine frühe Vita beinahe bösartig: „Hanns Dieter Hüsch wuchs in den schwierigen 1930er Jahren in der niederrheinischen, vom Bergbau und von kleinbürgerlichen Verhältnissen geprägten Kreisstadt Moers als gehbehinderter Sohn protestantischer Eltern auf. “ Was sich wie eine posthume Beleidigung liest, bringt Prägendes auf den Punkt. Die Jugendzeit war Leidensphase, er verbrachte große Teile davon in dem Ort, in dem heute mein Acker ist. Süchteln hat nicht nur seit über 100 Jahren die größte Nervenheilanstalt der Region, sondern ebenso lang eine auf demselben Gelände gelegene orthopädische Klinik.

Für mich hat just hier die zweite Mangolderntephase begonnen. Hartnäckiges, üppig wucherndes, verblüffend hellgrünes Grünzeug. Nun war heute auch der Sommer 2011 und die Lust auf langwierige kulinarische Versuchsanordnungen entsprechend gering. Und der Entschluss schnell gefasst, Gemüse mit Reis zu machen. Allerdings völlig freestyle, auf italienische Art, mit spanischer Wurst, maghrebinischen Aromen und eben Mangold.

In der schweren Pfanne ließ ich dünne Scheiben von der Wurst langsam aus. Die krossen Chips fischte ich heraus und in das ausgetretene Fett gab ich eine gewürfelte Zwiebel und ebensolche Mangoldstiele, etwas Knoblauch. Bald den Reis. Etwas Wein – besser: Lambrusco – und reichlich Gemüsebrühe hinzu, nach und nach. Ebenso etappenweise feingeschnittene Mangoldblätter. Die mähliche Verfärbung des Gemüses störte mich heute nicht. Um aber etwas Frische zu bewahren, kam ein restlicher Schwung erst jenseits der Herdhitze mit der Butter und dem Käse hinzu. Vorher jedoch würzte ich mit zwei bis drei Prisen Ras el Hanout.

Mangoldrisotto mit Chorizoaroma und -chips

Mangoldrisotto mit Chorizoaroma und -chips

Zitronenabrieb sorgt für Frische. Mehr oder weniger. Niederrheinisch präzise halt. Aber lecker. Eigentlich wär das hier übrigens als „Niederrheinische Reispfanne“ auch etwas für ein aktuelles Buchstabenkochblogevent. Dazu müsste ich aber weiter ausholen, über die Franzosenzeit hin zur preussischen Rheinprovinz kommen, oder so ähnlich. Ein ander Mal…


Psychedelika und Soetelsche Muhre

1969 fand in Dschalalabad ein Musikfestival statt. Dabei wurden aber nicht etwa religiöse Naa´d oder traditionelle, indisch beeinflusste Ragas zur züchtigen Aufführung gebracht. Vielmehr hätte das Ganze eher unter dem Motto „Drogenhölle in der Drogenhölle“ aus heutiger, fundamentalistisch korrekter Sicht und Diktion firmieren können. Hippiegesocks, FlowerPowerPeople und Nudisten feierten, als wären sie am Ende der Welt und ein Morgen unmöglich. Für Nachgeborene ist dies heute die verbreitete Betrachtungsweise: Afghanistan ein Land ohne Zukunft, Sammelbecken für Unbelehrbare und Lebensmüde. Doch Urlaub am Hindukusch? Freizeitvergnügen Paschtunistan?

Steht heute im Haus der Geschichte in Bonn: Der Hippie-Bulli

Steht heute im Haus der Geschichte in Bonn: Der Hippie-Bulli

Damals wie heute ist die Stadt das Tor zum Chaiber-Pass, auf dem Weg von Kabul nach Peschawar. Der jedoch war immer schon nur eine winzige Etappe der Pilgerfahrt von West nach Ost, genauer: Von Europa nach Indien. Ende der 60er waren Kolonnen von bunten Bullis unterwegs, Destination Goa. Freie Liebe, LSD, Batikhemden. Eine weitere Kolonialisierungswelle, eine Art Grundsteinlegung für das „global village“? Wie auch immer, bevor man über’n Berg war, wurde Rast gemacht inmitten von bunten Mohnfeldern in der erwähnten afghanischen Stadt. Auch Lionel Foxx, ein junger französischer Drummer, war mit seiner Band Crium Delirium im Sommer 69 vor Ort. „Wir landeten mit einem psychedelischen Bus der Hog Farm inmitten von Kamelen, fünf Mädels an Bord und widmeten uns Sex und Drogen und der Musik.“

Selbst an einem verregnet-nüchternen niederrheinischen Sonntagmorgen lässt sich einiges dieses Zeitgefühls nachempfinden beim Wummern der Boxen, aus denen ein Mix namens Power to the carottes dröhnt. Der gleichnamige Track von Crium Delirium ist ein Musterbeispiel für psychedelischen Progrock. Und gleichzeitig der perfekte Soundtrack für einige Gedanken zum Thema gelbe Möhren.

Auf meinem Acker widme ich mich dem Erhalt der „Süchtelner Möhre“ (Soetelsche Muure/Muhre). Dass diese die Hauptzutat bildet für den traditionellen Muhrepruchel (Muurejubbel), erwähnte ich bereits. Doch immer seltener ist sie dank esskultereller Gleichschaltung und Globalisierungswahn auf hiesigen Märkten zu kaufen. Also selber säen – dies war auch der eigentliche Grund, warum ich unter die Gemüsegärtner ging. Arche-Ackern quasi. Der Spaß kam erst später.

Zu erkennen sind die Karottenähnlichen am typischen grünen Kopf. Und geschmacklich an der Milde, der geringeren Süße als die orangenen Kollegen. Der Ertag ist gut, der Wuchs wild, die Zubereitung einfach.
Zum Beispiel ein Möhrensalat: Zusammen mit der ebenfalls abgebildeten Zwiebel raspeln und mit einem guten Sonnenblumenöl, Zitronensaft und -abrieb, saurem, frühzeitig vom Baum gefallenem Apfel, wenig Salz und Pfeffer vermischen und mindestens 30 Minuten ziehen lassen. Die Ingwer-/Sesamöl-Variante passt besser zur Purple Haze.

Auf dem Foto ebenfalls zu sehen ist die Gurkenblüte. Eine Idee für Schmorgurken-Pasta folgt bald. Ebenso wie diese von Bloggerfreundin Afra Evenaar ironisch als „Beängstigend kreativ!“ bezeichnete Zubereitung: Rösti von gelben Möhren, safranisiertes Pflaumenkompott, gedämpfte Blutwurst. Es bleibt spannend.


Bilderrätsel eines betrübten Bloggers

Woher kennen Sie dieses Motiv?

Zweigkanal, zwischen Oedt und Süchteln

Zweigkanal, zwischen Oedt und Süchteln

Antworten bitte als Kommentar.
Wenige Meter weiter labte sich meine waidwunde Seele an diesem klassischen Idyll. Ja, werte Fotografenfreunde und -verwandte, das kann man besser auf den Chip bannen. Nein, liebe Leser, ich habe nicht den Zynismus gegen schale Romantik eingetauscht. Bin nur verwirrt.

Die Niers zwischen Grefrath und Oedt

Die Niers zwischen Grefrath und Oedt


Schweine-Sterben mit Kornbrand

Der Herbst ist ja traditionell die Zeit des Abschieds. So ging es vor Zeiten auch dem lieben Vieh, fanden im Oktober und November doch in den niederen Rheinlanden ringsum die Hausschlachtungen statt. Daran anschließend floß der Schnaps und irgendeine Musik spielte auf zum Tanz. „Värkesbloot“ hießen diese Feste zum Beispiel.

„Schweineblut“ findet in manchen Dorfkneipen auch im Jahre 2010 noch statt. Hierbei handelt es sich jedoch in der Regel um nichts weiter als ein mehr oder weniger geselliges Beisammensein (mit viel Schnaps), Kartenspiel und Tombola. Hauptpreis: Ein ganzes, immerhin geschlachtetes, Schwein.

Schweineblut auf der Tafel der Stadtschenke in Süchteln

Schweineblut auf der Tafel der Stadtschenke in Süchteln

Ebenso verkauft noch heute fast jeder Dorfschlachter in diesen Tagen Pannas (oder westfälisch: Panhas), eine Art Blut-Grützwurst, die cross gebraten mit Schwarzbrot und Rübenkraut gegessen wird. Solcherlei wird gerne mit historisierender Anmut ausgeschlachtet, um sich kollektiv zu betrinken (na klar, mit Klarem!):

Hinweis auf ein Fest zu Ehren der Blutwurst, sinnigerweise im Fenster der Konditorei Rongelraths

Hinweis auf ein Fest zu Ehren der Blutwurst, sinnigerweise im Fenster der Konditorei Rongelraths hängend

Übrigens: Nach backlash riechend finden inzwischen Veranstaltungen wie das porkcamp statt (ein Dank an Frau Evenaar). Aus gegebenem Anlass: Keine Musik.