Bitte nicht auflegen! Jahresendmix 2012 (Teil 1)

Immerhin war 2012 das beste Jahr meines bisherigen Lebens. 2011 stand unter dem Einfluss von drei Frauen – nun ist es nur noch eine. So wurde auch die aktuelle Ausgabe des traditionellen Jahresendmixes eine ganz besondere: Seit mindestens anderthalb Dekaden gab es kein Jahr, in dem ich mehr deutschsprachige Alben gekauft oder zu heimischem Liedgut getanzt, gefeiert oder genüsslich gelitten hätte. Popmusik ist kleine Kunst für breite Massen – was davon bei mir ankommt, ist allerdings oft seitenverkehrt.

Viele Menschen finden in diesen Tagen ein Mixexemplar in ihrem Briefkasten (wer sich vergessen fühlt, kommentiere hier). Zu einer Vinylpressung hat es leider nicht gelangt, doch die 16 Lieder füllen auch die profane Form. Sie eint darüberhinaus nicht nur die Herkunft, sondern viel mehr noch die Haltung der Künstler und Interpreten: Der Wille zur alltäglichen Transzendenz. Bedeutet: Immer eine Handbreit über dem persönlichen Horizont schweben und dabei die Bodenhaftung nicht verlieren. Allenfalls, wenn es sich um einen Tanzflur handelt. Here we go:

1. F.S.K. – Lady Chatterley

Nach 33 Jahren spielen die drei Männer und eine Frau nun schon gemeinsam als Freiwillige Selbstkontrolle. Mit „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ gelingt ihnen ihr bestes Album. Dazu Ende des Jahres noch ein formidables Konzert in Düsseldorf – meine Heimatmelodie, Generationenmusik, Kunstkonsens. Aufsteiger des Jahres.

2. Superpunk – Neue Zähne für meinen Bruder und mich

Das Ende kam und doch geht es weiter. Superpunk waren der Soundtrack des verschwitzten Teils meines Lebens, zeitweise. Die Abschiedskonzerte waren Feste, die Zusammenstellung „A Young Person’s Guide to Superpunk“ feine Erinnerungskonserve.

3. Die Türen – Dieses Lied

Diese Lied ist gegen Widerstand. Metapostmusikermusik.

4. Ecke Schönhauser – Mixtape

Als ich die Ecke anfang 2012 das erste Mal hörte, waren sie mir wohlbekannt. Der Proberaum-Sound, ein gehetzter Sprechgesang, fragmentarische Alltagsprosa. Musikalischer Brückenschlag aus dem kontemporären Berlin ins Hamburg der 1990er Jahre. Befindlichkeiten bleiben in der Kneipe, hinterm Tresen steht ein tätowiertes Mädchen. Wir haben sie alle gemocht und ertränken irgendeine Sehnsucht mit Tequila und schlechtem Bier.

5. Shaban & Käpt’n Peng – Parantatatam

Schon wieder die Hauptstadt. Schauspielersöhne mit deutschem Sprechgesang. Klingt furchtbar.

6. Susanne Blech – Alle Tiere wollen in den Zoo

Nach wie vor ist es so, dass so gut wie alle Menschen in meinen Kreisen entsetzt reagieren auf meine Liebe zu Susanne Blech. So absurd die Kombination aus Düsseldorf und Bochum ist, klingt auch der stupide Kirmestechno mit den selbstverliebten Versversuchen. File under: Falco 2.0!

7. The Blue Angel Lounge – Ewig

Das ist anders, düster, psychedelisch, kraftvoll, textlich ziemlich daneben. Doch von ungeheurer Wucht. Mich hat’s weggeblasen beim ersten Hören. Klingt wie Joy Division auf der Erstsemesterparty der Fernuni. Zwei Schritte vor und zwei zurück.

8. Kid Kopphausen – Zieh Dein Hemd aus, Moses

Post mortem ist es mir eines der wichtigsten Alben des Jahres geworden. Der große Musikant und lustige Maler Nils Koppruch mit seinem Vermächtnis – danke dafür.

(Die Stücke 9 – 16 folgen; tbc.)


Coeur de Pirate, Susanne Blech oder doch Princess Chelsea?

Seit Tagen höre ich zwei neue Alben, immer im Wechsel, bei unendlich scheinenden Autofahrten durch den niederrheinischen Eisnebel. Beide werde ich jetzt nicht weiter vorstellen, denn diese Zeilen habe ich heute für Prinzessinenmusik aus Neuseeland reserviert. Nur soviel: Coeur de Pirate heißt eigentlich Béatrice Martin, stammt aus Quebec – ich kenne sie seit 2009, als Julien Doré zusammen mit ihr Rihannas Umbrella-Liedchen nachsang – und ist mit ihrer aktuellen Platte „Blonde“ leider mehr im Chanson als im folkpunkigen Powerpop, den ich mir erhofft hatte , gelandet. Das zweite Stück heißt Adieu und gefällt mir dank eines gewissen Videowitzes noch am besten – ansonsten setzt aber das gemeine Musikmarketing ganz auf alte Franzosen mit Bärten als Käuferschicht – was dank Kindchenschema und Kulturradiosexappeal auch funktionieren dürfte. Selbst die Tattoos sehen aus wie gemalt!
Dass ich hingegen Susanne Blech liebe, erwähnte ich bestimmt schon. Mehr zufällig geriet ich letzten Sommer beim Juicy Beats Festival in Dortmund in einen Nachmittags-Rave dieser RheinRuhr-PartyGuerilla und kann mich seitdem des Reizes, den die Mischung aus Kirmestechno mit Pseudointellektualität auf mich ausübt, nicht entziehen. Triumph der Maschine ist ein (guter) Witz, Die Maschinen laufen heiß mindestens Video des Monats, und das Helmuth-Kohl-Sample nach dem gleichnamigen Track Meinungsmache für den Tanzflur.

Aber nun geht es ans andere Ende der Welt, nach Auckland. Vor acht Monaten bereits veröffentlichte Chelsea Nikkel als Princess Chelsea das Album Lil‘ Golden Book auf Lil‘ Chief Records. (Leider funktioniert das Einbetten des Albums nicht in allen Browsern – so verbirgt sich also hinter dem Link das komplette Werk zum Online-Anhören.)

Klassische Schlafzimmeraufnahmen, die den ganzen Charme des DIY atmen. Fluffige Melodien, hübsche Hooklines und Texte irgendwo zwischen Non- und Common-Sense. Die Wege der Popkulturrezeption sind ja bisweilen reichlich verschlungen: Ich stieß auf die Neuseeländerin, weil sie in einem Interview als einen ihrer Haupteinflüsse Fred Coles Dead Moon anführte. Auch wenn von deren Garagepunksound wenig übriggeblieben ist beim Synthiepop der Prinzessin: Die Garage kann man schon noch spüren. Auch und besonders bei ihrem allerersten Track, Monkey Eats Bananas.

Dass der immerhin nicht kleine Internethype, den ihre Single „The Cigarette Duett“ auslöste, keine Resonanz in Mainstreammedien fand, ist verwunderlich. Hierzulande wird der Song zwar im Qualitätsradio gespielt, findet ansonsten aber Widerhall allerhöchstens auf obsukren Blogs wie diesem.

Immerhin steigt so die Wahrscheinlickeit, dass Chelsea Nikkel mit ihrem Roland E-20 auch weiterhin aus ihrem Schlafzimmer heraus die Welt mit richtig guten Songs ein kleines Stück heller machen wird.


Mashup

Samstage sind dem Deutschen traditionell kulinarisches Durcheinander. Zur Geschichte der Nazi-Eintöpfe schrieb ich einst das Nötige, dennoch mag ich’s an diesen Tagen, die eher von logistischem Tun und Flurbereinigungsprojekten geprägt sind, schnell und in einem einzigen Kochgeschirr. Auf die musikalische Ebene verlagert spricht der Experte da gerne von Mashups oder gar Bastard-Pop. Genres, die bisweilen riesige Schrotthaufen generieren. Wenn’s gut geht, also die Gesangsspur des einen Artisten gekonnt mit den Beats eines anderen verwoben wurden, entsteht mehr als die Ursprünge vermochten. Seit Danger Mouse 2004 Jay-Z und die Beatles verheiratete und aus schwarz und weiß grau machte (The Grey Album), freue ich mich hin und wieder an gelungener DJ-Kunst. Sola Plexus, bekannt aus dem Susanne Blech Umfeld, hilft mir heute beim rhythmischen Kochen – zusammen mit Adele und Beenie Man. Triumph der Maschine, das neue Susanne Blech Album, erscheint übrigens in wenigen Tagen und wird mindestens lustig.

Adele vs Beenie Man – Feel Me Rolling In The Deep Boy (Sola Plexus)

Der eine Topf war mein Wok. Hinein kamen Reisnudeln, Chinakohl, Chili, Ingwer, Knoblauch, Fisch- und Sojasauce. Eier. Ein Gericht, das keine Asian-Fusion-Küche totglobalisiert bekommt. Einfach genial.

reisnudeln mit chinakohl

Dazu passte übrigens perfekt der Franzen-Riesling, den Lukas Krauß mir empfohlen hatte. Danke für den Tipp!


Auf Saftsuche mit Herrn Paschulke

Das gastronomische Angebot bei musikalischen Großveranstaltungen medioker zu nennen wäre ebenso  euphemistisch, wie der aktuellen Jahreszeit die Bezeichnung Sommer angedeihen zu lassen. Dieses Grundwissen fand ich gestern wieder einmal bitter bestätigt und nehme daher Abstand vom ursprünglich investigativen Plan, diesen kleinen  Blog aufzuwerten durch eine Recherche zur Getränkequalität auf einem Musikfestival in Dortmund, welches sich irreführend Juicy Beats nennt.

Wolken überm Ruhrgebiet: Ein abendlicher Blick auf die vernebelte Hauptbühne des Juicy Beats.

Wolken überm Ruhrgebiet: Ein abendlicher Blick auf die vernebelte Hauptbühne des Juicy Beats.

Also Rock’n’Roll – denn durch die Kehlen floss Bier, ziemlich ausschließlich. Gegessen wurde Papppizza. Aber jetzt folgt Werbung:
Wer Musik mag, populäre zudem, möglichst bunt gemischt, wen das Ruhrgebiet nicht an Sibirien gemahnt, wenn genügend Kondition vorhanden, stundenlang durch die grüne Lunge Dortmunds zu lustwandeln und wer schließlich latente Überforderung eher schätzt als lähmende Langeweile: Kommt auf’s Juicy Beats, beim nächsten, dann 17. Mal. Ursprünglisch ein Treffen für Freunde von Electronica und Open-Air-Clubbing, Clicks und Scratches, Bytes und Beeps, ein lebendiger Beweis für die Qualität von elektronischer Tanzmusik jenseits von Techno und House, ist die Veranstaltung über die Jahre zu einem Marktplatz und Laufsteg geworden für alles Interessante im kontemporären Pop. Auch wenn die als diesjähriger Headliner gebuchte Beth Ditto kurzfristig absagen musste, tat das dem Hörgenuss und der Schaulust keinen Abbruch.

Zwischen sechs Bühnen und über 20 Dancefloors lief ich mir die Füße wund und ertanzte mir blutige Blasen. Meine subjektiven Highlights in Ein-Satz-Kritiken:
Ce’Cile gab die sexy Dancehall-Bitch und sorgte samt deutscher Backingband für jamaikanische Sonne und wackelnde Hintern. Saalschutz bewiesen, dass schweizerischer Ravepunk auch unter freiem Himmel knallt. Von Pferdeliebe (My horse likes you – Song des Tages!) schwärmten Bonaparte, die mit Abstand durchgeknallteste Combo des Jahres. Susanne Blech ist ein lustiger Kindergarten, Partypeople mit Presslufthammer, eine Art Scooter + Niveau. Der Grund, warum tausende Indieboys und -girls ins östliche Ruhrgebiet gepilgert waren: Die beste und einflussreichste deutsche Alternative-Band aller Zeiten, The Notwist.

Die Weilheimer Gebrüder Acher spielten mit ihrer Band The Notwist Songs aus dem Album Neon Golden.

Die Weilheimer Gebrüder Acher spielten mit ihrer Band The Notwist nach dem Soundcheck Songs aus dem Album Neon Golden.

Und dann war da noch Herr Paschulke. Auf der leider viel zu kleinen und abseits gelegenen „Funkhaus Europa Worldbeat Stage“ feierten die Lokalmatadoren mit allen, die sich von solch einem unsäglich miefigen Wortungetüm nicht abschrecken ließen, ein schweißtreibendes Fest.

Herr Paschulke heizt ein.

Herr Paschulke heizt ein.

Es durfte, es sollte, es musste getanzt werden. Ein krasser Stilmix aus Ska und Funk und Balkanbeat und Mariachi und Klezmer und Reggae krachte zusammen mit einem riesigen Frontmann in fünf Sprachen voll auf die Zwölf. Ich mag Schweiß ohne Hintersinn, die Lust am Feiern, Kampf dem Verkopften. Den ganzen dreckigen Rest gibt’s ja jeden Tag.