Köln, an einem Samstagabend

Zum dritten Male klitschnass, festgeregnet, vom Wind in einen dunklen Hauseingang getrieben, an einer lauten, südwestwärts laufenden Ausfallstraße, knapp außerhalb des pulsierenden Teils Kölns. Vor 200 Jahren waren hier nur Felder und Gärten, allenfalls Mitglieder der Töpferzunft gingen, jenseits der alten Stadtmauer, ihrem gefährlichen Handwerk nach. Daher rührt der Name des Tors im Wall, der heute auch die Bahnstation der Linien 15 und 16 ziert: Ulrepforte.

Schon seit Stunden lasse ich Wehmut und Wohlgefühl eine blutige Schlacht schlagen in meinem Bewusstsein. Das ist immer so, setze ich mehr als nur einen Fuß auf heiligen Grund. Dies urbane Dorf nimmt mich gefangen, seit ich ihm als Bewohner den Rücken kehrte vor wenigen Jahren und es mich trieb, raus auf’s Land. Köln ist ein Gefühl, singt bestimmt nicht nur der Karnevalist. Eine eigentliche Großstadt ist es nicht. Ich kenne jeden Winkel aller Gassen und die erschreckenden Antlitze der allermeisten Bausünden. Die kulinarischen Katastrophen und kulturelle Löcher. Die Agonie der hiesigen Popkultur stürzt mich geraden Wegs in eine tiefe Depression, feucht bis auf die Haut, den Schirm zerfetzt. Ich gehe weiter.

Überquere die Rolandstraße, rechts liegt der Volksgarten, lange Jahre habe ich kellnernd und kochend einen Steinwurf entfernt meinen Lebensunterhalt erschwitzt, eines Studiums wegen, das brotlos direkt zur Kunst der permanenten Neudefinition des eigenen Seins führte. Der Park dröhnt trommelnd in meiner Erinnerung, Spätsommerabende, bevölkert von Reißdorftrinkerhorden, halbhippiesk, schlechte Gesänge, dünne Gespräche, penetrantes Balzverhalten an jedem Lagerfeuer.  Die sind jetzt alle in Berlin. Oder in Portland.

Zurückkehren an einen neuen Ort. Stadt ist als Organismus schneller als der Fluss, in den zweimal zu steigen unmöglich scheint, ist er doch niemals gleich. Doch neben aller Projektion, dem eigenen kleinen, subjektiven Blick, ist und bleibt Köln der Ort, wo eine ganz spezielle Sorte Mensch hängenbleibt, ein Leben lang. Um sich nach Tagen schon als Ureinwohner, die es so wohl gar nicht mehr gibt, zu fühlen. Als eingefleischte, aber lebensfrohe Kulturpessimisten, der Welt zugewandt. Offen und mit klarem Blick auf die Dinge – solange sie nicht nebelverhangen sind in der Bucht, die bis Aachen reicht. Ich bin Herzenskölner, vielleicht gerade weil ich die offiziellen Insignien dieses Stammes verabscheue: Karneval, Kölsch und den FC.

Die katholische Kirche hingegen mag ich manchmal, der Show wegen. Der Laden ist eine Verein gewordene Profilneurose. Ich baue mir gerade gedanklich eine Brücke zu der Tür, durch die ich gleich schreite. In ein Pop-up Restaurant, einen Supperclub, zu einem Guerilladinner. Die nächsten sechseinhalb Stunden werden zur neuerlichen Probe, ob ein Haufen SocialMedia-Verrückter, deren einzige Verbindung bisher im digitalen Ausleben der je eigenen Genusssucht bestand, mit ihrem Sendungsbewusstsein in natura zu egozentrisch-missionarischen Eiferen werden oder einfach: netten Menschen. Drei Blogger kochen und luden sich 30 Leute an den Tisch, in ein ehemaliges, bisweilen als Eventlocation genutztes Restaurant. Die Show beginnt.

Einzig Natalie kenne ich schon, sie ist eine der drei Küchenkreativen heute, ich traf sie letzten Sommer bei Arthurs Tochter in Ingelheim.  Ich sehe Glück und Stress zugleich in ihr Gesicht geschrieben, eine gute Mischung. Mit einem Glas zu süßen rosé Schaumweins stelle ich mich an die Seite und betrachte die Szenerie. Nach einer kurzen Phase überkritischer Distanz – wie konnte ich nur unter diese Horde pseudohipper Junggebliebener, die außer Essen und Trinken keine Lust mehr leben, geraten – werde ich ruhig und offen. Nehme einzelne Gesichter wahr, ein Lächeln hier, drei interessierte Sätze da. Erkenne: Leuchtende Augen. Spannung. Gleichgesinnte.

Dann in die Küche, um die beiden anderen kennenzulernen, zu begrüßen.  Marco vom Marieneck. Dem ich die Hand kräftig schüttele. Und ihn sofort mag. Als letzten Marqueee. Der allem Anfang das Wort redet und den ich schon lange lese. Der etwas unwirsch wirkt. Der Druck ist spürbar. Ich bin begeistert: Keine Show, glasklare Gefühle. Der Eindruck wird sich dann bestätigen mit jedem Gang, der an unseren spannend besetzten Tisch gelangt. Klare Linie, kein Firlefanz, die Aromatik der einzelnen Grundprodukte wird herausgearbeitet und miteinander in Verbindung gebracht. Was genau es gab und welche Weine wir dazu tranken, hat Matze detailliert beschrieben.

Den ich mir im Übrigen genauso vorgestellt hatte, wie ich ihn nun, schräg gegenüber am Tisch, erlebe. Lexikalische Meinungsstärke. Mit ’ner Flasche Wein im Jutebeutel und immer einen Korkenzieher am Mann. Neben mir Christoph, den ich vom Vinocamp nur der Stimme nach kannte.  Er redet so entspannt und zurückgelehnt über seine Weine, wie ich es selten erlebt habe in dieser eher von Dominanzverhalten geprägten Szene. Die Dame mir gegenüber bloggt über ein völlig anderes Thema, das gemeinsame Medium jedoch führt uns in ein spannendes Gespräch über Mechanismen und Wirkweisen der nicht-journalistischen Publikation.

Kölsches Stillleben: Leere Teller, Schwarzbrot, Kraut

Kölsches Stillleben: Leere Teller, Schwarzbrot, Kraut

Kerbelknollen sind meine kulinarische Entdeckung dieses stundenlangen Abendessens. Neben dem vin naturel, der in der Tasche war (Braucol, 2010, Domaine Plageolet).  Menschen kennenzulernen, war wichtiger. Die Gewissheit zu haben, wieder zu Hause, beim Schreiben solcher Texte, dass da draußen ein Resonanzboden ist, der schwingt. Wie die Kölner Nacht, in die ich nach dem Verlassen dieser Stätte ganzheitlichen Leibeswohls tauche. Was ich an Köln besonders mag? Die dunklen Stunden. Die Abwesenheit von Gewalt und Härte, wie sie andere urbane Zonen atmen. Dass es ein Ort ist der ewigen Möglichkeit: Nichts muss, alles kann. Wie ein Versprechen, das nicht auf Einlösung drängt. Und so seiner Erfüllung reichlich nahe kommt – heute war so ein Abend.


14 Kommentare on “Köln, an einem Samstagabend”

  1. Marqueee sagt:

    Danke. Für den Besuch. Für den Text. Für die morgendlichen musikalischen Perlen.

    ps: Unwirsch, ich? Aber nie im Leben!

  2. hach…
    jetzt war ich also doch dabei

  3. nata sagt:

    Stark, jedes Wort! – Danke!

  4. chezmatze sagt:

    Das finde ich sehr interessant, was Du über Deine ersten Eindrücke auf dem Event sagst. Es ist mir früher des Öfteren so gegangen, dass ich mich verloren in einer Ecke stehend vorgefunden habe, errettet dann durch praktisches Tun – wie Essen. Seitdem habe ich es mir angewöhnt, wenn ich allein irgendwo hingehe, immer ein bisschen später zu kommen. Da sind die besten Plätze zwar oft weg, aber DIE SACHE hat schon angefangen. Und nach einer Weile bin ich dann eh warmgelaufen.

    A propos, mein Lieber, der Jutebeutel war in Wirklichkeit die 1a-Tragetasche der Grande Epicerie (http://www.lagrandeepicerie.fr/#fr-FR/home) ;). Ich fand’s auch sehr „nett“, plump ausgedrückt. Und von Christophs Art und seinen Weinen bin ich eh richtiggehend Fan…

  5. beautyjagd sagt:

    Die Dame von gegenüber war ebenfalls hocherfreut, so interessante Gespräche führen zu können. Danke dafür und für den schönen Blogpost, durch den ich dich gleich nochmal ein Stückchen mehr kennen gelernt habe. Auf einen nächsten Abend unter Foodbloggern!

  6. utecht sagt:

    @ marqueee + nata
    Gerne doch und immer wieder! Ein paar schnoddrige Zeilen sind das mindeste, womit ich mich bedanken kann!

    @ AT
    bei mir sitzt Du doch immer in der ersten Reihe…

    @ matze
    Dass Du die Tasche nicht auf Dir sitzen lässt, hatte ich gehofft 😉 Aber mir war das Klischee wichtig…

  7. Lakritze sagt:

    Die Stadt nur von ferne und den Abend gar nicht kennend: das ist ein schöner Text.

  8. chezuli sagt:

    Und ich als Kölner war mal wieder zu weit weg um dabei zu sein. Aber bei der Küchenbesatzung war doch Gelingen vorher klar.-:)

  9. Marco sagt:

    Der Text liest sich wie ein Krimi – Kommisar Matze und der unwirsche Koch! Habe mich über die Zeilen sehr gefreut

  10. oachkatz sagt:

    Deine Zeilen machen Lust auf Köln und aufs Menschenkennenlernen.

  11. utecht sagt:

    @ beautyjagd
    Hoffentlich bald!

    @ lakritze
    Danke!

    @ chezuli
    Beim nächsten Mal…

    @ marco
    Toller Titel!

    @ oachkatz
    Freue mich über das Kompliment!

  12. Sehr schöner Text! Hoffentlich auf bald.

  13. berti sagt:

    kein tag ohne

    autonomes zentrum

    köln kalk


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